Das Wort „Fachkräftemangel“ hätte es verdient, als Wort des Jahrhunderts ernannt zu werden. Politische Debatten, Wahlveranstaltungen, Unternehmens-Geschäftsberichte und Tageszeitungen zur Migration, allüberall wird der Fachkräftemangel als Grund für nicht erreichte oder nicht erreichbare Ziele genannt.
Zu hoch angesetzte Wunschziele sind die Ursache für den überall beklagten Fachkräftemangel.
Von Pflegeeinrichtungen wird eine Rundumbetreuung erwartet. Am besten durch ein persönliches Team, das für Animation, für die Fitness, die individuelle Ernährung, medizinische Betreuung und auch dafür besorgt ist, dass nach dem Aufenthalt das wieder Eingliedern in die Familie und den Berufsalltag gelingt.
Staatliche Lebensmittel-Spezialisten sollen lückenlos für gesunde Lebensmittel sorgen und Sicherheitskräfte des Staates sollen jegliche Gefahr von den Bürgern abwenden.
Wenn unser Fernseher versagt, wünschen wir uns einen Fachmann, der mit wenigen Handgriffen das hochtechnische Gerät wieder in Ordnung bringt. Ist uns der Wohnungsschlüssel abhandengekommen, der Wohnungszugang dadurch verwehrt, ist der Wunsch nach einem Fachmann verständlich, der gekonnt den Zugang zur eigenen Wohnung wieder herstellt.
Aufgrund häufiger Klagen von Konsumenten führen Konsumentenschutz-Organisationen in vielen Fachbereichen, fortlaufend Test durch. Sei es bei der Beratung von Versicherungs- oder Bankangeboten, sei es beim Service der Heizanlage oder bei der Reparatur einer Waschmaschine. 60 Prozent der geprüften Arbeiten werden von Fachspezialisten mit „unqualifiziertes Vorgehen“ bewertet, häufig mit entsprechender Kostenfolge.
Es wäre zu einfach, den Fachkräften Unfähigkeit vorzuwerfen und nach besseren Berufsleuten zu rufen. Bei der Vielschichtigkeit unserer Welt ist es unmöglich, an jedem Ort Berufsleute zur Verfügung zu haben, die eine spezifische Sachlage im Detail beherrschen. Wir kennen den Augenarzt und jene weitere auf ein Spezialgebiet fokussierte Ärzte. Augenärzte werden zwar eine körperliche Wunde versorgen können, aber sie werden nicht die quaifizierte Arbeit eines Spezialisten für Wundheilung leisten können. Ähnliches gilt bei Informatik-Fachkräften. Die ganze Komplexität der Telekommunikation, Informatik und Datenverarbeitung muss auf Spezialisten für Netzwerktechnik, Datenbanken, Sicherheitstechnik und zig Spezialgebiete aufgeteilt werden. Themen ausserhalb des persönlichen Spezialgebietes können sie ebenso wenig bearbeiten, wie der Bäcker Fleisch verarbeiten kann.
Zur ganzen fachlichen Vielfalt sind die Arbeitsfelder laufend Änderungen unterworfen. Jährlich, teilweise monatlich kommen neue Verfahren und neue Produkte in die Berufswelt und erfordern neues Wissen, Erfahrungen und Routine. International tätige Unternehmen müssen, bedingt durch die Globalisierung, auf dem Weltmarkt Spitzenleistungen vollbringen. Spitzenleistungen bedeutet, mit neuen Produkten und Dienstleistungen in guter Qualität schnell auf dem Markt zu sein. Sieger ist, wer neue Angebote als Erster auf den Markt bringt. Dieser macht das grosse Geschäft und hat in der Regel für einige Zeit die Nase vorn. Ein irgendwo auf der Welt entwickeltes und produziertes, neues Produkt wird in inkürzester Zeit, oft mit Flugzeugen, rund um den Globus verteilt. Das Fachwissen zu diesem Produkt wird sich hingegen nur allmählich ausbreiten. Manchmal auch gar nicht, weil es nach kurzer Zeit durch eine Neuentwicklung abgelöst wird.
Die Erwartung, es würden fortlaufend auf allen Gebieten Spezialisten verfügbar sein, die sich in spezifischen Fachgebieten bestens auskennen, ist sinnlos. Solange sich Wirtschaft und Menschen im gegenwärtigen Tempo verändern, gehört der Fachkräftemangel zum System. Daran ändert auch der Ruf der Politik und der Bildungsindustrie nach einer Bildungsoffensive nichts. Bildungseinrichtungen können niemals das ganze, breite Spezialwissen abdecken. Insbesondere aber können sie nicht vorausblickend erkennen, welches Spezialwissen in naher Zukunft erforderlich ist. Kaum jemand führt seinen Beruf noch in der Art und Weise aus, wie er es vor zwanzig Jahren in einer mehrjährigen Ausbildungszeit gelernt hat.
Der Fachkräftemangel ist so selbstverständlich wie der Wechsel vom Tag zur Nacht. Er lässt sich in unserer vielfältigen Gesellschaft auf keine Art und Weise verhindern. Möglich wäre das nur durch eine Entschleunigung der Weltgeschehnisse. Hierzu sind jedoch keine Personen oder Institutionen in Sicht, die das bewerkstelligen könnten und wollten. Setzen wir also unsere begrenzten, menschlichen Arbeitskräfte dort ein, wo es der gesamten Bevölkerung, durch das ganze Leben hindurch, die beste Lebensqualität bringt. Motivieren wir Mitmenschen, mit vorzüglichen Arbeitsbedingungen und der Wertschätzung ihrer Dienste, zu Tätigkeiten, die, ohne Ausbeutung von Menschen und Natur, uns ein vorzügliches Leben bescheren - zugunsten der Gemeinschaft.