Über 15'000 Strafverfahren sind in der Schweiz hängig. Drei, vier Jahre kann es nach einer Anklage schon einmal dauern, bis ein Gerichtstermin steht.
Entsprechend hat das Bundesgericht im Jahre 2023, bei einem acht Jahre dauernden Verfahren, krasse Verzögerungen festgestellt. Nicht selten müssen Verfahren infolge drohender Verjährung, unter Zeitdruck erledigt werden. Wobei sich häufig wichtige Details nicht mehr klären lassen. Auch gilt es zu bedenken, dass der Straftäter zwischenzeitlich unbehelligt seinen Gewohnheiten nachgeht und der Bezug zur Straftat verloren geht. Die Wirkung und der Sinn des Strafverfahrens verfehlen seinen Zweck. Wir können doch nicht Menschen, die eine erhebliche Straftat begangen haben, nicht erst nach Jahren ins Gefängnis stecken - ein dramatischer Missstand des Strafprozesses.
Meldungen über ungerechtfertigte Rechnungen, nicht gewährte Rückerstattungen, nicht Erbringen von zugesagten Leistungen, hinterlistige Abzocke durch unterlassene oder versteckte Informationen im Kleingedruckten sowie unzumutbar lange, allgemeine Geschäftsbedingungen sind alltäglich. Ist eine Person von einem derartigen Unrecht betroffen, sucht sie vergebens nach der staatlichen Rechtsordnung. Das einzige, was die Schweiz zu bieten hat, ist ein beschwerliches Rechtsverfahren, bei dem zuerst einmal Zahlungen geleistet werden müssen. Die bekanntermassen hohen Verfahrenskosten halten Normalverdienende davon ab, ihr Recht durchzusetzen, sodass es beim Unrecht bleibt.
Geradezu zum Tummelplatz für Betrügereien hat sich das Internet entwickelt. Mit Abo-Fallen, Ärgernissen beim Online-Shopping, nicht gewährten Rücktrittsrechten, Verletzungen des Persönlichkeitsschutzes oder bei missbräuchlichen Online-Bewertungen kommt es immer wieder zu Rechtsverstössen. Das geht eindrücklich aus den im Jahre 2023 bei der österreichischen Internet-Ombudsstelle eingegangenen 10'036 Beschwerden hervor. Diese Institution bietet Hilfe bei Problemen rund um Online-Shopping und andere digitale Themen wie Urheberrecht, Datenschutzrecht, Persönlichkeitsrechte etc.
In der Schweiz existieren verschiedene Ombudsstellen. In der Regel sind diese mit einer Branche verknüpft und daher nicht neutral. Beispielsweise stellen die Fernmelde- oder Mehrwertdienstanbieter mit der Stiftung „ombudscom“ eine Schlichtungsstelle zur Verfügung. Sie stellt das Pendant zur österreichischen Internet-Ombudsstelle dar, hat aber im Jahr 2023 lediglich 1866 Fälle bearbeitet. Es wäre leichtgläubig, daraus zu schliessen, in der Schweiz seien die Geschäftspraktiken kundenfreundlicher. Der Grund, weshalb im Vergleich zu Österreich fünfmal weniger Streitereien gemeldet wurden, liegt daran, dass „ombudscom“ nur Fälle behandelt, bei denen ein Vertragsverhältnis mit einem Anbieter (Auftrag+Rechnung) vorliegt. Zudem werden Gebühren bis zu 500 Franken erhoben. Letztendlich werden Fälle wie Datenschutzrechte, persönliche Verletzungen mit Bildern, Urheberrecht, sicheres Bezahlen, Hass oder schädigende Online-Bewertungen gar nicht behandelt. Somit werden in der Schweiz tausende von Personen mit dem vermeintlichen Unrecht allein gelassen. Sie werden an ganz anderer Stelle, beispielsweise wenn es Gelegenheit zum Demonstrieren oder Randalieren gibt, ihrem Unmut gegen die Obrigkeit Luft verschaffen.
Bei der schweizerischen Strafprozessordnung erstellt die Staatsanwaltschaften einen Strafbefehl lediglich aufgrund der von der Polizei eingereichten Dokumente. Erhebt der Beschuldigte keine Einsprache, weil er schnell einmal mit Tausend und mehr Franken rechnen muss, wird die Strafe rechtsgültig. 95 Prozent aller Strafbefehlsverfahren gehen auf diese Art und Weise über die Bühne, ohne dass der Staatsanwalt den Beschuldigten zu Gesicht bekommt und diesen juristischen Beistand nutzen kann. Obwohl die Beachtung der Sichtweise des Beklagten sich beim Strafmass schnell einmal um mehr oder weniger Kosten, Stunden gemeinnütziger Arbeit oder Monate Freiheitsentzug auswirken kann.
Wenn in der Schweizer Verurteilungen, mit den erwähnten, schwerwiegenden Folgen für die Betroffenen, ohne wirkliches Gerichtsverfahren vorgenommen werden können, müssten bei Verletzung von Konsumentenrechten vergleichbare Verfahren möglich sein. Genau gleich wie beim Strafverfahren kann von einem Richter erwartet werden, dass dieser die Vertragslage zwischen einem Konsumenten und einem Unternehmen beurteilen und die Sache entscheiden kann. Gesetze, die den gesellschaftlichen Alltag regeln sollen, sind nutzlos, wenn kein Instrument für deren Durchsetzung vorhanden ist.
Anstelle der Ombudsstellen, die auf dem Goodwill der Beteiligten beruhen, sind die Friedensrichterämter mit den entsprechenden Befugnissen auszustatten. Eine in der Gegenwart sich ausweitende Justizlücke würde geschlossen. Das Argument, dass mit einem derartigen Verfahren die Anzahl gemeldeter Fälle drastisch ansteigen, unterstreicht die Notwendigkeit zu handeln. Zudem würden die Unternehmen, im Wissen möglicher Konsequenzen, den gesetzlichen Bestimmungen vermehrt Beachtung schenken, sodass mit sinkenden Fallzahlen zu rechnen ist.
Vor dem Hintergrund, dass die Gesetzgeber, bedingt durch die trägen demokratischen Prozesse, mit dem schnellen, politischen und wirtschaftlichen Wandel nicht Schritt halten können, müssen Gerichte vermehrt über Themen urteilen, von denen noch keine erarbeiteten Gesetze existieren. Solche Verfahren allein nach juristischen Gesichtspunkten zu beurteilen ist deshalb problematisch, weil Juristen in diesen Fällen Paragrafen anwenden, die für den gegebenen Fall nicht gedacht sind. Langwierige Prozesse und nicht nachvollziehbare Entscheidungen sind die Folgen. Beispielsweise diskutieren Juristen noch heute, Jahre nach Bekanntwerden des Dieselskandals, über die Schuld- und Schadenersatzfrage. Nach demokratischen Grundsätzen drängt sich die Wiedereinführung von Leihenrichtern auf. Bei den zu erarbeitenden Leiturteilen würden die Leihenrichter die Volksmeinung und den aktuellen Zeitgeist in das Urteil einfliessen lassen.
Begehen Jugendliche zwischen dem zehnten und achtzehnten Lebensjahr ein Delikt, gilt für sie das Jugendstrafrecht. Ab 16 Jahren gelten Jugendliche als urteilsfähig. Ist ein Kind urteilsfähig, kann es über bestimmte Fragen zu seiner Persönlichkeit selbst entscheiden. Die Eltern können beispielsweise ohne dessen Zustimmung nicht eigenmächtig eine medizinische Behandlung anordnen. Dem gegenüber ist den Kindern in der Schweiz die Teilnahme am richterlichen Entscheidungsprozess verwehrt. Minderjährige Flüchtlinge sind, aufgrund europäischer Vereinbarungen, teilweise besser gestellt.
Wenn eine Person hierzulande einen Schaden erleidet, kann sie ihr Recht nur einfordern, wenn sie über grosse finanzielle Mittel verfügt. Erleiden viele Personen den gleichen Schaden, muss unsinniger Weise jede einzelne vor Gericht ziehen. Das belastet nicht nur die Gerichte, es ist auch unzumutbar, weil häufig der Schaden in keinem Verhältnis zu den Verfahrenskosten steht. Bereits 2013 stellte der Bundesrat in einem umfassenden Bericht fest, dass im schweizerischen Recht bei Massen- und Streuschäden eine gravierende rechtsstaatliche Lücke bestehe. Im Oktober 2024 beantragte die Kommission für Rechtsfragen dem Nationalrat, auf die Vorlage nicht einzutreten. Sie erachtet es als unnötig, im Rat darüber zu diskutieren. Das in Kenntnis, dass die Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten deutlich weniger Rechte haben als ihre europäischen Nachbarn.
Eine tiefgreifende Revision der Rechtsprechung drängt sich auf. Bei der Strafprozessordnung ist der Focus auf die wesentlichen Handlungen zu richten und nicht auf das Auswalzen von Nebensächlichkeiten, die im Endeffekt zu einem „gerechten“ Urteil nichts beitragen. Die Beweiserhebung ist auf das zu beschränken, was für die Durchführung des Verfahrens wirklich notwendig ist. Mit derartig kompakten Untersuchungen und entsprechenden Beweisverfahren vor Gericht arbeiten andere Länder deutlich effektiver.
Eine Effizienzsteigerung lässt sich auch mit der konsequenten Anwendung der Digitaltechnik erzielen. Ob auf Papier oder elektronisch dokumentiert wird, ändert an der Rechtsprechung nichts. Ebenso trägt künstliche Intelligenz dazu bei, die massgebenden Informationen schnell und vollständig zusammenzutragen. Sie übertrifft die menschlichen Möglichkeiten bei weitem. Schlüsse aus den Informationen zu ziehen und Urteile zu fällen, darf jedoch niemals der KI übertragen werden.