Herr Müller, Sie haben zum Thema Grundeinkommen ein Buch geschrieben. Weshalb gerade jetzt?
Unsere Sozialhilfe Ausgaben steigen, trotz sinkender Arbeitslosenzahlen, von Jahr zu Jahr. Das bedeutet, dass für immer mehr Menschen kein Lebenskosten deckender Arbeitsplatz verfügbar ist.
Eine faire Verteilung der irdischen Güter muss auch jenen zugutekommen, denen kein Arbeitsplatz zur Verfügung steht. Wir haben kein Recht, Menschen, die sich nichts haben zuschulden lassen kommen, jahrelang, mit allen möglichen Verpflichtungen und einer kaum existenzsichernden Versorgung, als Arbeitsbettler von Unternehmen zu Unternehmen zu schicken und auf diese Weise zu demütigen. Sind die Fähigkeiten der Arbeitsuchenden nicht im Einklang mit den Stellenausschreibungen, sind derartige Handlungen sinnlos. Sie kosten Geld und belasten die Psyche und damit die Gesundheit der Betroffenen. Niemand kommt auf die Idee, einen ehemaligen Fussballspieler solange auf einen Tennisplatz zu schicken, um zu lernen und zu üben, bis er als Sieger mit dem erspielten Geld leben kann. Genau das machen wir mit denjenigen, die wir trotz Aussichtslosigkeit auf den Arbeitsmarkt beordern.
Ein Arbeitsuchender ist nicht dafür verantwortlich, wenn nach jahrelangen Bemühungen, mit Förderungsprogrammen und mit Unterstützung des Arbeitsamtes, für ihn kein Arbeitsplatz gefunden wurde. Die Wirtschaft kann, unter Berücksichtigung der menschlichen Fähigkeiten, schlichtweg nicht für jeden Einwohner eine Lebenskosten deckende Arbeit anbieten. Vor allem auch deshalb nicht, weil nicht jeder Mensch für jede Arbeit geeignet ist. Ein musikalisch begabter Mensch kann nicht zum Programmierer, ein wenig Sprachbegabter nicht zum Dolmetscher umfunktioniert werden.
Es ist im Sinn der Menschenwürde, wenn die in der Arbeitswelt überzähligen Mitmenschen ebenso frei über ein minimales Einkommen verfügen können wie beispielsweise Rentner.
Abweichend von bedingungslosen Grundeinkommen-Konzepten, wird in meinem Buch nur jenen Einwohnern ein staatliches Grundeinkommen zugesprochen, bei denen es die Lebenssituation zur Deckung des Grundbedarfs erfordert.
Sie klagen an, dass der Arbeitszwang eine umweltschädigende Überproduktion zur Folge hat!
Parallel zu den steigenden Produktionszahlen ist die Kehrrichtentsorgung in den letzten Jahren zu einem mächtigen Wirtschaftszweig geworden. Der absolute Zwang mit Arbeitsleistungen den Lebensunterhalt zu verdienen, bewirkt eine für unseren Wohlstand nutzlosen Warenüberfluss. Die überschüssigen Güter werden von den Produktionsstätten mit immer noch größeren Schiffen und noch mehr LKWs zu Verteilern verschoben und landen, trotz massiver Werbung, schlussendlich in der Kehrrichtentsorgung. Wir bezahlen den ganzen Irrsinn nicht nur mit Arbeitsstress, sondern berappen auch, beginnend bei der Rohstoffgewinnung, über die Produktion, den Transportweg, den Handel, die Werbung und schlussendlich die Kehrsichtverbrennung beziehungsweise den Betrieb der Müllhalde, die ganze Wertschöpfungskette. Zudem schaden wir der Umwelt, verschwenden Energien und beuten die beschränkt vorhandenen Ressourcen aus. Lassen wir also Menschen eine minimale Grundversorgung zukommen, denen zur Verbesserung der Lebenssituation kein Arbeitsplatz zur Verfügung steht und mit einem bescheidenen, umweltschonenden Leben zufrieden sind.
Wie soll das finanziert werden?
Die Schweiz lässt bereits heute niemanden verhungern. Die von Bund, Kantonen und Gemeinden gegenwärtig ausbezahlten Unterstützungsbeträge reichen für das Grundeinkommen aus, es fehlt lediglich die Transparenz. Das Bundesamt für Statistik weist aus, dass in der Schweiz pro unterstützte Person ein durchschnittlicher Betrag von Fr. 2 500.- an Sozialhilfe ausbezahlt wird. Das ist exakt der Betrag, der auch beim Grundeinkommen zur Anwendung gelangen soll.
Wenn bei dieser Personengruppe für die Grundversorgung bereits gesorgt ist, weshalb wollen Sie das System ändern?
Die Betroffenen haben absolut keinen Handlungsspielraum. Sie sind – beispielsweise Alleinerziehende – eingebunden in Verpflichtungen und müssen, insbesondere bei Wohnung und Arbeit, den amtlichen Anweisungen nachkommen. Erwachsene Menschen, in dieser Form zu entmündigen, widerspricht unserer Rechtsnorm. Die Betroffenen sind zudem vom gesellschaftlichen Leben weitgehend ausgeschlossen und werden dadurch beschädigt. Demgegenüber sieht mein Vorschlag Massnahmen zur Einbindung in den Lebensalltag vor, um die Tür zu einem normale Beschäftigungsleben offenzuhalten.
Die Ausrichtung von Unterstützungsgeldern zieht oft Personen an, die gerne auf Kosten anderer Leben.
Wir sprechen hier von einem Grundeinkommen, das ein spartanisches Leben auf der untersten gesellschaftlichen Ebene ermöglicht. Nur wenige werden mit diesem dürftigen Leben zufrieden sein. Die große Mehrheit wird sich, wenn sich eine Chance ergibt, um eine bessere Lebensqualität bemühen.
Gewiss, es gibt Menschen, denen es an Energie mangelt, das persönliche Leben in die Hand zu nehmen und es sinnvoll zu gestalten. Es gibt aber auch Personen, die aufgrund einer Behinderung nicht einem leistungsfähigen Norm Menschen entsprechen. Wo es visuell erkennbar ist, werden Menschen, die durch Arbeit ihren Lebensunterhalt nicht selber bestreiten können, von der Gesellschaft großzügig, mit baulichen und technischen Hilfsmaßnahmen unterstützt, damit sie am Leben der Gesellschaft teil haben können. Viele Rentner könnten ferner problemlos ihren Lebensunterhalt selber bestreiten. Sie würden der arbeitenden Bevölkerung dadurch nicht zur Last fallen und zusätzlich einen Beitrag an das Gemeinwohl leisten. Wenn Rentnern und behinderten Menschen diese Großzügigkeit zugestanden wird, was absolut zu begrüßen ist, ist es angebracht auch jenen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, die beim Kampf um einen Arbeitsplatz leer ausgehen.
Randständige, die mit unserer Gesellschaft nicht zurechtkommen, sich außerhalb der gesellschaftlichen Regeln sehen und entsprechend leben, werden nicht im Rahmen des Grundeinkommens versorgt. Sie werden den Verhältnissen entsprechend betreut, wobei angestrebt wird, sie zur Erfüllung der Auflagen und damit zur Aufnahme ins Grundeinkommen zu bewegen. Dies zu erreichen hat jeder selbst in der Hand.
Erhalten Flüchtlinge auch ein Grundeinkommen?
Flüchtlinge sind verpflichtet, einer ihren Möglichkeiten entsprechenden Beschäftigung nachzugehen. Sie erfüllen damit die Auflagen für ein Grundeinkommen. Flüchtlinge lernen auf diesem Weg sich in unserer Arbeitswelt zurechtzufinden, lernen die Sprache, können ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen und weiter entwickeln. Arbeitsuchende Einheimische erfahren durch das ihnen zustehende Grundeinkommen mit dieser Regelung keinerlei Benachteiligung. Hingegen profitiert die Gesellschaft durch die erbrachten Arbeitsleistungen und die beschleunigte Integration der Zugewanderten.
Sie propagieren das Grundeinkommen als Startup-Schmide. Wie soll das funktionieren?
Die Aufrechterhaltung unseres Sozialwesens erfordert eine Wirtschaft, die mit den globalen Entwicklungen Schritt hält. Globalisierung und Digitalisierung werden auf dem Arbeits-, Produkte- und Dienstleistungsmarkt stärkere Veränderungen bringen als wir uns vorstellen können. Viele Jobs werden verloren gehen und es werden nur dort neue geschaffen, wo Innovation gelebt wird. Das derzeitige Berufsbildungswesen, mit dem jahrelangen Büffeln von im Internet jederzeit abrufbarem Wissen, genügt den zukünftigen Anforderungen nicht mehr. Die in vergangenen Jahren erarbeitete Lehrpläne fördern die Innovationen und damit die Bildung neuer Arbeitsplätze nicht. Möglich gemacht wird dies, indem jungen Menschen mit dem Grundeinkommen die Chance gegeben wird, losgelöst vom Zwang für den Lebensunterhalt Geld zu verdienen, eigene Ideen in die Tat umzusetzen. Jugendliche, die ins Berufsleben streben, Silicon Valley beweist das, strotzen vor Ideen, das zukünftige Leben zu gestalten. Das Grundeinkommen bietet ein Fundament dieses Innovationspotential, nach dem Grundsatz Learning by Doing, zu nutzen. Dass die heutige Berufsbildung den neuen Anforderungen nicht mehr gewachsen ist, geht auch daraus hervor, dass, nach neusten Ermittlungen, bei nahezu 50 % aller Berufe am Computer gearbeitet wird. Neue Mitarbeitende werden in der Regel in kurzer Zeit in die arbeitsplatzspezifische Software eingearbeitet.
International operierende Unternehmen und Institutionen werden Arbeitskräfte vermehrt nur noch projektbezogen beschäftigen, wodurch die Arbeitnehmer stets neue Aufgabenstellungen mit neuen Themen bewältigen müssen. Auch in diesen Fällen erfolgt die Ausbildung betriebsintern, gezielt auf das neue Thema, innerhalb weniger Wochen oder Monate.
Ein Land wird dann erfolgreich die Zukunft bewältigen, wenn es den Ideenreichtum und den Tatendrang der jungen Menschen mit der Sicherung ihrer Grundversorgung fördert. Nur auf diesem Weg können mit kreativen, neuen Ideen diejenigen Arbeitsplätze geschaffen werden, die für die Erhaltung des Sozialwesens erforderlich sind. Das nicht Erreichen dieser Ziele wird zwangsweise weiter steigende Armut zur Folge haben.
Mit dem Grundeinkommen wollen Sie den steigenden Sozialausgaben entgegentreten. Wo sehen Sie Einsparungspotential?
Beim heutigen Sozialhilfewesen greifen die Organisationen von Bund, Kantonen und Gemeinden ineinander. Die Verfahren sind kompliziert und entsprechend aufwendig. Kosten entstehen nicht nur durch die Unterstützungszahlungen an die Bedürftigen. Hinzu kommen die Kosten für die stetig neu in den Parlamenten und Regierungen auszuhandelnden Sozialmassnahmen, die Aufwendungen für die sogenannten arbeitsmarktlichen Massnahme, für Gutachten zur Abklärung der Arbeitstauglichkeit und schlussendlich für Gerichtsverfahren, die durch den Gesetzesdschungel provoziert werden. Mit dem Grundeinkommen entfallen viele dieser Kostenpositionen.
Eine Analyse der Sozialunterstützungen zeigt, dass nahezu 50 % der als Sozialhilfe ausbezahlten Gelder über die Mietzinse auf die Konten Vermögender fliessen und dort der Vermögensvermehrung dienen. Um die Sozialausgaben zu senken, ist vorrangig dieser Missstand zu korrigieren. Geeignete Massnahmen beim Mietwucher tragen sehr viel mehr zur Reduktion der Sozialausgaben bei, als weitergehende Abstriche bei der Sozialhilfe.
Eine Studie kommt zum Schluss, dass schweizerische Verwaltung bezüglich Digitalisierung im Ländervergleich zu den Entwicklungsländern zählen. Das Grundeinkommen ist prädestiniert mit aktueller Digitaltechnik realisiert zu werden. Digitaltechnik macht die Datenverarbeitung nicht nur schneller und weniger fehlerbehaftet, sie liefert auch aussagekräftige Analysen zur Missbrauchsvorsorge. Nicht zuletzt lassen sich gegenüber der gegenwärtigen Organisation hunderte von Stellen einsparen.
Herr Müller, vielen Dank für das Gespräch.
ISBN: 978-3-7469-9362-1